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Unkraut fängt im Kopf an

"Ich sehe was, was Du nicht siehst ..."

S

chönheit erschließt sich auf unterschiedliche Weise. Geschmäcker sind zwar verschieden, aber Harmonie ist für alle erfahrbar, gleichgültig, in welcher Form sie in Erscheinung tritt. Manchmal bedarf es ein wenig Zeit und die Bereitschaft, vorgefasste Sehgewohnheiten und Werturteile zu überwinden, um eine größere Fülle an Schönheit erleben zu können.

Es gibt Pflanzen, die sehe ich und weiß sofort: Das ist Unkraut. Das muss ich ausreißen! Aber Moment, wer sagt das? Wer hat mich so programmiert? Was sehe ich wirklich?

Z.B. eine Brennnessel: Urtica dioica, wie die Systematiker sie benannt haben. Seit es Kulturlandschaft gibt, ist sie bekannt aus ungenutzten Randbereichen, an denen sich Nährstoffe angereichert haben, weil dort überflüssige organische Masse abgeladen wurde. In diesen gemiedenen Ecken, wo Menschen nur kurz verweilen und dann - mit den Gedanken ganz woanders - rasch weitereilen, wuchert sie freudig vor sich hin und erwächst zu stattlicher Größe. Die Brennnessel reckt sich, oft schulterhoch, der Sonne entgegen. Mit dieser kommuniziert sie vermutlich rege, denn sie enthält ein hohes Maß an Silicium und auch viele andere wertvolle Stoffe wie Flavonoide, Magnesium, Kalium, Eisen und Vitamin E. Kluge Menschen, die das erkannt haben, nutzen daher die Brennnessel als gesundes Gemüse und Heilpflanze. Heute werden industriell aufbereitete Brennnesselprodukte sogar als `Powerfood´ gehandelt.

Auch ihre Gestalt ist ästhetisch: Ihr Wuchs folgt einer inneren Symmetrie. Blütentrauben zieren die oft rötlich gefärbten Triebe. Große, regelmäßig gezackte Blätter sind übersäht von stabilen Brennhaaren, die in der Sonne glänzen. Leider brechen sie bei Berührung und sondern ein Gift ab, das Hautirritationen und Schmerzen verursacht. Dieser Abwehrmechanismus stört vor allem uns Menschen, weil unsere Haut ungeschützt ist. Die Raupen des "Kleinen Fuchs" (Vanessa urticae) kauen ungerührt große Mengen der Blätter weg, um sich in farbenfrohe Schmetterlinge zu verwandeln.

Weil ich die Pflanze so schön finde, habe ich vergeblich versucht, sie in Blumensträuße zu integrieren. Aber das Leben in der Vase taugt dieser wilden Schönen nicht. Dort wird sie schlapp und kraftlos. Draußen in ihrem natürlichen Habitat durchwebt sie den Boden mit einem engmaschigen Netz gelber Wurzelstränge. Ein Tee daraus hilft Blasen- und Prostataleidenden! Diese kraftvollen Wurzeln auszurotten ist unmöglich. Deshalb entsteht viel Stress bei Menschen, die an dieser Stelle lieber eine andere Pflanze kultivieren möchten. Die gute Nachricht lautet: Die Erde wird von der Brennnessel auf besondere Weise aufbereitet und in lockeren, nahrhaften Humus verwandelt. Mit Geduld gelingt es, die Brennnessel soweit einzudämmen, dass auch andere Pflanzen in den Genuss kommen.

Auch viele weitere Wildpflanzen, die als Unkraut stigmatisiert sind, lohnen näheres Hinsehen: Giersch, Distel, Berufskraut, Weidenröschen, Ruprechtskraut, Schaumkraut, Schafgarbe ... Vielleicht tuen wir ihnen und uns Unrecht, wenn wir sie unüberlegt ausreißen, nur weil irgendwer uns irgendwann einmal gesagt hat, dass wir das tun sollen?

Text: Patricia Geyer, Fotos: Nina H. Niestroj/nhs photodesign