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Unkraut II

Unkraut II: "Wir grüßen die Überlebenden!"

B

islang war ich gewohnt, dass im September die Landschaft um mich herum von reifen Früchten bestimmt war, die ich dankbar ernten und für den Winter konservieren konnte. Gerne erinnere ich mich an Zitate aus romantischen Herbstgedichten: z.B. "Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen..." (E. Mörike, Septembermorgen) oder "Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah! Die Luft ist still, als atmete man kaum. Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah, die schönsten Früchte ab von jedem Baum" (F. Hebbel, Herbstbild). Wenn ich dieser Tage um mich lausche, bemerke ich eine neue, ungewohnte Stille. Es ist die Stille, die ich eher mit dem Vorüberwehen von dürren Zweigen in alten Western-Filmen assoziiere: Eine angespannte Stille, die mich ängstlich die Luft anhalten und vorsichtig um mich schauen lässt.

Die Zeit ist reif, um unsere Arroganz anthropozentrischer Auslese zu überdenken.

Die Landschaft hat sich verändert durch die anhaltende Trockenheit der vergangenen Jahre. Viele Sträucher und Bäume haben längst ihre Blätter abgeworfen oder sind der sengenden Sonneneinstrahlung zum Opfer gefallen. Gräser und viele krautige Pflanzen haben sich in den Schutz der Erde zurückgezogen und scheinen darauf zu lauern, dass wieder bessere Zeiten anbrechen. Das vertraute Bild nebelfeuchter Septemberlandschaft ist abgelöst worden von einer eher mediterran anmutenden Macchie.

Jetzt darauf zu beharren, dass alles so sein solle, als gäbe es diese Veränderungen nicht, scheint mir sowohl arrogant, als auch überflüssig anstrengend zu sein. Anstatt weiter Unkraut zu bekämpfen und mit hohem Wasser- und Energieaufwand Landschaften zu simulieren, die einer feuchteren Gesamtsituation und damit (zumindest im Augenblick) der Vergangenheit angehören, könnten wir dankbar diejenigen willkommen heißen, die weiterhin ungerührt gedeihen. Denn siehe da: Es gibt Überlebende! Interessanterweise entstammen sie oftmals der Gruppe von Pflanzen, die bis dato als Unkraut verpönt waren. Wo der englische Rasen längst aufgegeben hat, breiten sich munter Labkraut (Galium verum), Fingerkraut (Potentilla reptans), Habichtskraut (Hieracium pilosella), Hopfenklee (Medicago lupulina), Portulak (Portulaca oleracea), Schafgarbe (Achillea millefolium) und andere Wildkräuter aus, die ebenso als grüner Rasen genutzt werden können, sich nach dem Abmähen rasch regenerieren und mit hübschen Blüten das menschliche Auge und viele Insekten erfreuen.

Die meisten dieser oft als Rasen-Unkräuter bezeichneten Pflanzen besitzen außerdem Heilwirkung und können als Bereicherung für Salat und Tee dienen. Junge Blätter von Schafgarbe geben dem Salat eine herbe Note, der Tee wirkt krampflösend und blutstillend. Potulak kann als Salat oder Gemüse gegessen werden. Er enthält reichlich Vitamine, Mineralstoffe und Omega-3-Fettsäuren. Als Tee fördert er den Stoffwechsel. Vom Hopfenklee eignen sich Triebe, Blüten und Samen als gesunde Ergänzung des Speisezettels. Die enthaltenen Phytoöstrogene helfen bei Frauenleiden. Die Blätter des Habichtskrauts schmecken im Frühling im Kräuterquark und seine Blüten schmücken Salate. Habichtskraut-Tee wirkt entzündungshemmend und krampflösend. Das kriechende Fingerkraut kann genauso im Frühjahr in Salaten und Gemüsegerichten verwendet werden. Seine Heilkräfte sind ähnlich wie die des Gänse-Fingerkrauts, das gut gegen Bauschmerzen wirkt. Labkraut enthält tatsächlich Fermente, die Milch gerinnen lassen und wurde früher zur Käseherstellung verwendet. Alle der genannten Wildkräuter fördern die Verdauung und stimulieren den Organismus, weshalb sie nicht nur geduldet, sondern geschätzt und verspeist werden sollten. Regelmäßiges Ernten hält den Bewuchs niedrig und fördert ihre Erneuerung.

Warum nicht den langweiligen Rasen durch eine lebendige Pflanzen-Gemeinschaft ersetzen? Wer spielerisch veranlagt ist, kann Muster in die Fläche mähen, immer wieder neu entscheiden, wieviel gemäht und welche Bereiche stehen gelassen werden. Mit Pflanzen bedeckter Boden ist vor allzu großer Verdunstung geschützt. Sie halten Feuchtigkeit zwischen Stengeln und Blättern, die Taubildung wird begünstigt. So kann es insgesamt hilfreich sein, in trockenen Wochen, mehr Pflanzen stehen zu lassen. Ich nenne das: Lebenserhaltung durch Unterlassung. Andererseits treiben abgeschnittene Kräuter neu aus und blühen später im Jahr noch einmal, wodurch Insekten wieder Nahrung finden. Verblühte Triebe, die über Winter stehen bleiben dürfen, dienen ihnen dann als Überwinterungsort. So kann eine plane, grüne Matte in eine komplexe Welt verwandelt werden. Zaubern Sie mit!

Text: Patricia Geyer, Fotos: Nina H. Niestroj/nhs photodesign